Die COVID-19-Pandemie hat es gezeigt: Apotheker:innen und Apotheken können mehr und müssen mehr können als bloße Logistik. Wo liegt das Potenzial, und wie können wir es ausschöpfen, auch und gerade durch ein neues Pharmazie-Curriculum?
Unser gesamtes Gesundheitssystem fährt gegenwärtig mehr oder weniger gegen die Wand. Wir pumpen immer mehr Geld in die Behandlung chronischer Erkrankungen, ohne messbaren Nutzen für Patienten. Die Lebenserwartung hat sich im Wesentlichen durch die Einführung von Hygiene, Impfungen und Antibiotika verbessert. Rechnet man den Anteil der Verhütung und Behandlung von Infektionskrankheiten jedoch heraus, bleibt nicht viel übrig an Zugewinn gesunder Lebensjahre. Im Gegenteil, seit einigen Jahren sinkt in den USA und Großbritannien die Lebenserwartung.
Prävention hat einen enormen Impact
Wir geben nur 1% unseres Gesundheitsbudgets für Prävention aus, obwohl wir wissen, dass 80% aller Behandlungs- und Folgekosten chronischer Erkrankungen durch die Einhaltung einfacher Regeln gesunder Lebensführung verhinderbar wären. Dazu zählen: nicht rauchen, wenig Alkohol, ausreichend gesunder Schlaf, wenig rotes Fleisch und viel pflanzliche Ernährung, gutes Stressmanagement, soziales Eingebundensein und Nutzung der sinnvollen Vorsorgemaßnahmen.
Die Number needed to treat
Stattdessen scheinen die meisten Ärzte und Patienten auf die Kraft von Arzneimitteln zu hoffen. Okay, das ist im Moment das tägliche Brot des Apothekers. Doch besteht nicht der Wert von pharmazeutischer Beratung und Intervention eher darin, eine Verschreibung zu hinterfragen oder einem Patienten von einem freiverkäuflichen Arzneimittel abzuraten? Da sind wir gegenwärtig zwiegespalten, da einerseits der Verkauf von Arzneimitteln und das Beliefern von Rezepten der wesentliche Einkommensfaktor für Apotheken ist. Andererseits profitieren die meisten Patienten überhaupt nicht von ihren Arzneimitteln. Hier kommt die Number needed to treat (NNT) ins Spiel: Für blutdrucksenkende Mittel zum Beispiel müssen 100 Patienten behandelt werden, damit einer von ihnen einen echten Vorteil hat. Vorteil heißt nicht, dass der Blutdruck sinkt, denn der sinkt bei allen. Vorteil heißt, dass durch die Einnahme des Blutdrucksenkers ein Schlaganfall oder Herzinfarkt verhindert werden kann, der andernfalls eingetreten wäre. Das Gleiche gilt für fast alle Arzneimittel und kann auf der Internetseite thennt.com recherchiert werden.
Wir verstehen Krankheiten nicht
Es ist auch nicht überraschend, dass Arzneimittel so unpräzise sind, weil wir, wenn wir ehrlich sind, so gut wie keine Erkrankung hinsichtlich ihrer Ursachen verstehen. Wir können Erkrankungen auch nicht vorhersagen, sondern müssen warten, bis Symptome entstehen. Dann benennen wir die Erkrankung nach dem Symptom in einem Organ: zum Beispiel Herzschwäche, Nierenversagen, Asthma und so weiter. Das sind alles keine molekularen Krankheitsdefinitionen, die eine präzise Diagnostik und präzise Therapie erlauben, sondern lediglich eine Behandlung von Symptomen zulassen. So wie die Gabe von gefäßerweiternden Arzneimitteln, die den Blutdruck – also das Symptom – senken, ohne aber die eigentliche Ursache überhaupt erkannt und behandelt zu haben. Auf diese Weise werden fast alle Erkrankungen chronisch, und irgendwie scheinen wir uns damit alle abgefunden zu haben.
Fehler im System: Wir brauchen Value statt Input
Die Ärzte sind zufrieden, weil die Patienten regelmäßig in die Praxis kommen. Die Apotheken sind zufrieden, wenn sie Rezepte beliefern und vielleicht noch einen kleinen Zusatzverkauf tätigen können. Die Pharmaindustrie ist zufrieden, da sie große Teile der Bevölkerung regelmäßig mit Arzneimitteln versorgt. Auch viele andere medizinische Maßnahmen können unnötig sein oder müssten zumindest hinterfragt werden. Das gilt für den jährlichen Check-up beim Hausarzt und Zahnarzt, viele orthopädische Operationen und Herzkatheteruntersuchungen. Das World Economic Forum hat dieses System eine „Input-Medizin” genannt. Was immer man in das System hineinverordnet oder an Maßnahmen durchführt, wird erstattet. Niemand analysiert, was dabei letztlich als Patientennutzen im Verhältnis zu den Kosten herauskommt. Was wir stattdessen brauchen, ist eine „Value-basierte Medizin”, und zwar mit Nutzen für den Patienten.
Muss im Fokus stehen: Gesundheitskompetenz
Prävention findet so gut wie nicht statt. Sinnvolle Maßnahmen wurden den Apothekern als optimale Anlaufstelle entzogen, wie der Medikationsplan, der nun in der Hand der Ärzte liegt und kaum genutzt wird. Das sehen wir auch an anderer Stelle der Digitalisierung. Spätestens seit 2020 sind die allermeisten Apotheken auf das eRezept vorbereitet, doch die Kassenärztliche Bundesvereinigung würde den Startschuss gerne noch länger bis weit in 2022 hinauszögern. Gleichzeitig haben Apotheken und die Bevölkerung inzwischen erkannt, wie sinnvoll Apotheken als niedrigschwelliger Gesundheitsanbieter sein können: testen, Zertifikate ausstellen und nun auch noch impfen. Bloße Logistik und Notdienste können nur zum Teil die Präsenz von Vor-Ort-Apotheken rechtfertigen. Im Zentrum muss die Gesundheitskompetenz stehen. Insofern, ja, die Pharmazie, so wie wir sie kennen, hat keine Zukunft, aber eine neue Pharmazie hat eine große Zukunft: neu, anders und aufregend.
Zukunft schon heute: Regionale Gesundheitskonzepte
Eine ferne Zukunft? Nein! Ein Beispiel sind die regionalen Gesundheitskonzepte zum Beispiel im Kinzigtal im Schwarzwald oder im Werra-Meißner- und Schwalm-Eder-Kreis in Nordhessen oder dem Gesundheits-Kiosk in Hamburg. Dort werden völlig neue Versorgungskonzepte erarbeitet und validiert, die Ärzte und Apotheker von den Zwängen der gegenwärtigen Input-Medizin zumindest teilweise befreien. Zu einem Großteil der genannten Projekte entwickelte ein Apotheker (!) Verträge mit Krankenkassen. Diese beteiligen regionale Gesundheitsgesellschaften an dem durch ihr Engagement produzierten Gesundheitsnutzen. Die Vorab-Investition der Gesellschaft rechtfertigt sich, wenn durch eine klügere Prävention, höhere Patientenzufriedenheit, einen niedrigeren Krankenstand und eine bessere Versorgung für die Krankenkasse letztendlich niedrigere Kosten als üblich entstehen, die zudem noch mit der regionalen Systemgesellschaft geteilt werden. Auf diese Weise wird plötzlich viel mehr Geld in Prävention investiert. Interessanterweise spielen in Nordhessen hierbei Apotheken mit Mitarbeitern, die als Gesundheits-Coaches trainiert wurden, eine wesentliche Rolle. Apotheken bieten ein niederschwelliges Entree für Patienten oder Noch-nicht-Patienten, um sich rechtzeitig über Präventions-Angebote informieren zu lassen und diese auch nachhaltig anzuwenden. Gesundheitskompetenz also in Aktion.
Vom Ausland lernen: Lehre und pharmazeutische Dienstleistungen
Auch ein Blick über die Grenze in die Niederlande lohnt. Hier wurde die Innovation der Pharmazie bottom-up durch versorgende Apotheker induziert, die nicht mehr produkt-, sondern gesundheitsorientiert handeln wollten. Pionier war vor allem die Universität Leiden, die im Unterschied zu Groningen und Utrecht ein komplett neues Curriculum eingeführt hat. Bei diesem folgt auf den grundlagenwissenschaftlichen Teil im Bachelor ein in der medizinischen Fakultät angesiedelter Master, der durch Fächer wie Neurologie oder Chirurgie fast wie ein kleines Medizinstudium anmutet.
Auf diese Weise sind Pharmazeuten mit Medizinern zum gegenseitigen Vorteil im direkten Kontakt und damit eingebunden in die Arzneimittelstrategie. Die Universitäten in Groningen und Utrecht haben mittlerweile nachgezogen. Wann ziehen Deutschlands pharmazeutische Fakultäten nach? Auch bei den pharmazeutischen Dienstleistungen sind uns unsere Nachbarn voraus: Niederländische Apotheker werden für diese mittlerweile vergütet und müssen ein Minimum an Medikationsplänen pro Jahr begutachten. Dafür erhalten sie Zugang zu wichtigen Laborparametern, beispielsweise zur Ermittlung der Nierenfunktion. Weitere Beispiele für neue pharmazeutische Dienstleistungen finden sich unter anderem in den USA, wo Apotheker Disease-Management-Beratungen durchführen, und in Schottland, wo Pharmazeuten sogar in Arztpraxen die besonders komplizierten Medikationsfälle betreuen.
Rezeptur mit 2-D- und 3-D-Druck
Ein weiterer revolutionärer neuer Aspekt sind 2-D- und 3-D-gedruckte Arzneimittel. Diese ermöglichen es, in der Rezeptur der Apotheke individuell dosierte Tabletten und Arzneimittelkombinationen herzustellen, die jedes Fertigarzneimittel mit schmaler therapeutischer Breite in den Schatten stellen. Was soll ein Patient machen, wenn für ein hochwirksames Medikament mit nicht unerheblichen Nebenwirkungen nur Tabletten mit 10, 20 oder 50 mg erhältlich sind, er aber 37 mg benötigt? Gegenwärtig müsste er sich entweder unter- oder überdosieren, hätte also keine optimale Wirkung oder unnötige Nebenwirkungen. Mit diesen neuen Technologien könnten jedoch Tabletten mit exakt 37 mg gedruckt werden. Und wenn nötig, im nächsten Monat mit 36 oder 38 mg. Das heißt, selbst die ungeliebte, stiefmütterliche Rezeptur könnte in den nächsten Jahren zu einem Alleinstellungsmerkmal der Vor-Ort-Apotheken werden.
Die Pharmazie hat also eine große Zukunft, fordern wir sie ein, bottom-up!