Das Beratungsgespräch ist die Königsdisziplin in der öffentlichen Apotheke, so alltäglich wie es scheint. Es ist die Schnittstelle, bei der ihr das öffentliche Gesundheitswesen für den Kunden ins Private transportiert. Leider ist gerade dafür oftmals nicht genug Zeit – sowohl bei Apotheker:innen als auch beim Patienten.
Ein Kunde betritt die Apotheke, schiebt eilig das Rezept über den Tresen und schaut dabei bereits zum zweiten Mal auf seine Armbanduhr: „Haben Sie das da?“ Ein Blick auf das Rezept kündigt Schwierigkeiten an: Candesartan – oje, die Lieferengpässe. Die Apothekensoftware bestätigt die erste Befürchtung: Kein Rabattarz-neimittel lieferbar. Eine preisgünstige, verfügbare Alternative ist schnell gefunden – und sogar vorrätig! Nur noch die Sonder-PZN… „Wieso dauert das so lange? Gibt’s Probleme? In zehn Minuten fährt der Bus und vorher muss ich noch mein Kind aus dem Kindergarten abholen“, unterbricht der Kunde die Bemühungen. Die für den Apothekenbesuch eingeplante Zeit dieses Kunden ist also schon aufgebraucht, bevor die Beratung überhaupt begonnen hat. Ein Szenario, welches wohl die meisten Apothekenmitarbeiter:innen regelmäßig erleben. Verordnet ist in diesem Fall die kleinste Packungsgröße – vermutlich eine Erstverordnung: Hier ist eine ausführliche Beratung besonders wichtig.
Natürlich haben auch Apotheker:innen mit Rabattverträgen, dem Stellen von Genehmigungsanträgen an Krankenkassen, dem Herstellen individueller Rezepturen, Dokumentation und dem stetig klingelnden Telefon viel zu tun und eigentlich nicht immer ausreichend Zeit für umfängliche Beratungen. Für sie ist Beratung jedoch Pflicht. Diese Pflicht ist sowohl in der Apothekenbetriebsordnung (§ 20 Abs. 1 ApBetrO) als auch in den Berufsordnungen der jeweiligen Apothekerkammern fest verankert. Die Apothekenleitung muss im Rahmen des Qualitätsmanagementsystems (QMS) sicherstellen, dass Patienten über Arzneimittel und apothekenpflichtige Medizinprodukte ausreichend beraten werden. Dabei gilt es, die Beratung aktiv anzubieten und durch Nachfrage den Beratungsbedarf zu ermitteln.
Was sollte beraten werden?
Eine strukturierte Hilfestellung für die Beratung bei Rezeptbelieferung bietet hier die Bundesapothekerkammer (BAK) mit der Leitlinie zur Qualitätssicherung „Information und Beratung des Patienten bei der Abgabe von Arzneimitteln auf ärztliche Verordnung“. Dabei wird die Beratung bei einer Erstverordnung gegenüber der bei einer Dauerverordnung differenziert betrachtet. Ebenso wichtig ist die ausführliche Beratung im Bereich der Selbstmedikation. Die Leitlinie der BAK zur Qualitätssicherung „Information und Beratung des Patienten bei der Abgabe von Arzneimitteln – Selbstmedikation“ kann hier unterstützen.
Selbstverständlich können Patienten eine Beratung ausdrücklich ablehnen. In diesem Fall sollten Apothekenmitarbeiter:innen auf den mit einer Beratung verbundenen Nutzen und die mit fehlender Beratung einhergehenden Risiken hinweisen. Bei schweren Sicherheitsbedenken und Verdacht auf Gesundheitsschädigung dürfen Apotheker:innen die Abgabe des Arzneimittels verweigern.
Wie lang dauert die Beratung?
Im Rahmen des vom Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) beauftragten Gutachtens zum Apothekenhonorar („Ermittlung der Erforderlichkeit und des Ausmaßes von Änderungen der in der Arzneimittelpreisverordnung [AMPreisV] geregelten Preise“) aus dem Jahr 2017 wurden Apotheker:innen befragt, wie hoch der zeitlichen Aufwand für Gespräche in der OTC-Beratung ist. Nach Aussage der Pharmazeut:innen dauert das Hinterfragen der Eigendiagnose bzw. des Arzneimittelwunsches sowie Arzneistoff und Fertigarzneimittel auszuwählen oder zu beurteilen pro Präparat durchschnittlich 4,5 Minuten. Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, fehlerhaft ausgestellten Rezepten oder bei Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln ist der Zeitaufwand höher. Hier gaben die Apotheker:innen an, bei Rückfragen an Patient:innen, Ärzt:innen oder Krankenkassen etwa acht Minuten zur Klärung des Problems zu benötigen.
Mit der seit November 2020 eingeführten verpflichtenden Angabe der Dosierung auf Rezepten kommt eine weitere zu prüfende und gegebenenfalls zu ergänzende Angabe bei Rezeptbelieferungen hinzu. Das bedeutet weiteren Zeitaufwand für eine zunächst begrüßenswerte Angabe, die aus pharmazeutischer Sicht die Arzneimitteltherapiesicherheit fördert, allerdings auch ein weiteres Retaxationsrisiko birgt.
Diese Zeitaufwände erscheinen zunächst hoch. Viele Apothekenmitarbeiter:innen werden in ihrem Apothekenalltag deutlich kürzere Beratungsgespräche erleben. Wie kommt das? Einerseits kann die Ergebnisse der Umfrage beeinflusst haben, dass die Befragten vermeiden wollten, dass die Datenerhebung zu Nachteilen für ihren Berufsstand führt – auch wenn beim Erhebungsdesign besonderer Wert darauf gelegt wurde, dem entgegenzuwirken. Andererseits variiert der Beratungsbedarf je nach Arzneimittel und Darreichungsform. Die erhobene Beratungsdauer in Minuten stellt einen medianen Wert dar. Der Beratungsaufwand spezieller Darreichungsformen kann sogar deutlich höher ausfallen, z. B. bei Inhalativa. Dem statistischen Jahrbuch „Die Apotheke – Zahlen, Daten, Fakten 2020“ der ABDA zufolge sind rund 29 Prozent der abgegebenen Arzneimittel allein aufgrund ihrer Darreichungsform besonders beratungsintensiv.
Zusätzliche Hürden
Auch Verständigungsprobleme etwa bei der Beratung fremdsprachiger Patienten beanspruchen zusätzliche Zeit und wirken sich auf die Qualität von Beratung aus. Natürlich sollten Sprachbarrieren kein Hindernis sein und nicht zu einer weniger ausführlichen Beratung führen. Dennoch stellt diese Situation für viele Apotheker:innen eine große Herausforderung dar. Mittlerweile stehen kostenlose Hilfsmaterialien zur multilingualen Beratung etwa in Form von Piktogrammen und fremdsprachigen Broschüren mit den wichtigsten Begriffen für die Beratung in der Apotheke zur Verfügung, welche eine Verständigung und die korrekte Anwendung des Arzneimittels unterstützen.
Ebenso bedeutet Barrierefreiheit in der Apotheke mehr als einen rollstuhlfahrerfreundlichen Zugang zur Apotheke. Auch barrierefreie Kommunikation etwa mit gehörlosen sowie schwerhörigen Patienten ist eine Herausforderung im Apothekenalltag, der sich Apotheker:innen im Sinne einer sicheren Pharmakotherapie und der Gesundheit dieser Patienten mit ausreichende Ruhe und Zeit stellen müssen. Aktuell entstehen zudem vermehrt Verständnisprobleme akustischer Art durch Plexiglasscheiben und Masken – auch die Beratung leidet also unter der Corona-Pandemie.
Die Pflicht und die Kür
Ausreichend Zeit allein sichert natürlich noch keine gelungene Beratung bei der Arzneimittelabgabe. Grundlage ist außerdem fundiertes Fachwissen, welches Datenbanken unterstützen. Das langjährige Studium der Pharmazie qualifiziert für eine umfassende Beratung – zumindest inhaltlich. Kommunikations- und Fragetechniken sowie motivierende Gesprächsführung werden an den Universitäten aber meist unzureichend behandelt. Erst die Berufspraxis lehrt, souverän und sicher ein Beratungsgespräch zu führen und Fingerspitzengefühl für bestimmte Situation zu entwickeln, Ängste zu nehmen und das erlernte Fachwissen verständlich an Kunden weiterzugeben. Gezielte Kommunikation stärkt nachweislich die Therapietreue und steigert die Kundenzufriedenheit.
Außerdem sind Apotheker:innen fachlich bestens für die Medikationsanalyse ausgebildet. Im Gegensatz zur abgabebegleitenden, packungsbezogenen pharmazeutischen Beratung wird hierbei ganzheitlich und patientenorientiert beraten und die Gesamtheit der Medikation und der Gesundheitszustand der Patienten berücksichtigt. Arzneimittelbezogene Probleme werden identifiziert und Maßnahmen zu deren Lösung eingeleitet. Ziel ist es, die Effektivität der Therapie zu erhöhen, Risiken zu minimieren und somit die Arzneimitteltherapiesicherheit zu fördern. Auch hierzu gibt es eine Leitlinie zur Qualitätssicherung „Medikationsanalyse“ der Bundesapothekerkammer. Durch immer komplexere medikamentöse Therapien und den Nachweis des großen Potenzials pharmazeutischer Betreuungskonzepte für Patient:innen sowie Kostenträger in Studien steigt das Bewusstsein für den Nutzen der Medikationsanalyse. Daher sind Medikationsanalyse und Medikationsmanagement als wesentliche Beiträge der Apotheken zu einer sicheren, wirksamen und wirtschaftlichen Arzneimitteltherapie als zentrale Punkte des Perspektivpapiers „Apotheke 2030“ der ABDA aufgeführt.
Zeit zu Geld ummünzen
Hochwertige pharmazeutische Dienstleistungen beanspruchen natürlich sehr viel mehr Zeit. Für die im Rahmen des von der Apothekerkammer Nordrhein ins Leben gerufenen Projekts ATHINA (Arzneimitteltherapiesicherheit in Apotheken) durchgeführten Medikationsanalysen lag der Zeitaufwand im Schnitt bei 90 Minuten. Wenn die Apotheke sich als Kompetenzzentrum für Arzneimitteltherapiesicherheit profilieren und die Medikationsanalyse zum festen Bestandteil im Apothekenalltag werden soll, muss eine derartig zeitintensive pharmazeutische Dienstleistung natürlich entsprechend honoriert werden.
Nach dem Ende Oktober 2020 vom Bundestag beschlossenen Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) haben Versicherte durch eine Änderung im fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) künftig Anspruch auf „zusätzlich honorierte pharmazeutische Dienstleistungen“. Zur Vergütung dieser Dienstleistungen wie etwa Medikationsanalysen wird das Fixhonorar um 20 Cent pro Rx-Fertigarzneimittelpackung erhöht. Durch diese Änderung der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) werden insgesamt 150 Millionen Euro zur Finanzierung pharmazeutischer Dienstleistungen zur Verfügung gestellt. Eine Regelung, die vorgibt, wie der Zuschlag in eine Pauschale umgewandelt und ausgezahlt werden kann, ist im Gesetzesentwurf jedoch nicht enthalten. Nun sollen der Deutsche Apothekerverband (DAV) und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) konkrete pharmazeutische Dienstleistungen für Patientinnen und Patienten sowie deren Vergütung vereinbaren. Diese Verhandlungsaufforderung tritt allerdings erst Anfang 2021 in Kraft und damit wird der Zuschlag von 20 Cent, der erst nach Ablauf der Verhandlungsfrist gewährt wird, die Apotheken leider noch nicht allzu bald erreichen.
Beratende pharmazeutische Tätigkeit und die in sie investierte Zeit bekommen inzwischen immer mehr Anerkennung – bald auch finanziell. Das ist wichtig, denn dieser Zeitaufwand kann als ebenso wertvoll wie die medikamentöse Behandlung selber angesehen werden und sollte nicht als „entbehrlich“ abgestempelt unter den Tisch fallen – ganz unabhängig davon, ob vergütet oder nicht.