Wenn Medikamente sauber sein könnten …
Die Pharmaindustrie widerspricht der Anschuldigung, sie tue nichts gegen Arzneimittel in der Umwelt. Doch für effektive Methoden, die Medizin sauberer zu machen, verschließt sie sich. Wissenschaftler wie Dr. Klaus Kümmerer wissen, was helfen könnte.
Kurz vor Gesprächsbeginn zog ein schweres Gewitter auf Professor Kümmerers Seite der digitalen Leitung auf. Das Gespräch über Nachhaltigkeitsfragen in der Pharmaindustrie drohte zunächst zu platzen. Doch das Unwetter ließ rechtzeitig nach und gab den Weg frei, um in die Forschungswelt des Pioniers in Sachen Abbaubarkeit von Arzneimitteln in der Umwelt einzutauchen. Wie es Pionieren oft ergeht, fallen neue Visionen nicht immer auf fruchtbare Erde, sondern auf undurchdringbaren Boden.
Davon kann Klaus Kümmerer ein langes Lied singen. Heute ist er Professor für nachhaltige Chemie und stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität in Lüneburg. Doch schon bei seinem Chemiestudium in den 1980er-Jahren habe er sich für Umweltchemie interessiert, obwohl das Forschungsgebiet noch gar nicht begründet war. Er promovierte zu „Schwefelorganika in der aquatischen Umwelt“ und startete gemeinsam mit Professor Franz Daschner am Uniklinikum Freiburg ein gemeinsames Projekt zum Thema Arzneimitteleintrag aus Krankenhäusern in die Umwelt.
Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass Arzneimittel, wenn sie vom Menschen wieder ausgeschieden werden, nicht vollständig, teilweise gar nicht metabolisiert werden. Heute sind Arzneimittel in der Umwelt ein großes Thema, möglicherweise sogar das Thema, wenn es um Umweltschutz und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen geht. „Vielleicht bin ich ein bisschen mitbeteiligt, dass dies so ist“, sagt Kümmerer mit Stolz, aber dennoch bescheiden. „Ich hätte damals nie gedacht, dass das ein weltweites und lang anhaltendes Thema wird.“
Arzneimittel im Trinkwasser
Welchen Impact Arzneimittel auf die Umwelt haben, war vor Jahren noch nicht nachweisbar, liegt aber heute durch verbesserte Messmethoden auf der Hand: Rückstände von Arzneimitteln sind nahezu überall und immerzu in Fließgewässern sowie in Boden- und Grundwasserproben zu finden. Laut Umweltbundesamt wurden bislang rund 270 verschiedene Humanarzneimittel-Wirkstoffe in der Umwelt nachgewiesen. Die Konzentrationen lägen derzeit in der Regel zwischen 0,1 bis 1 Mikrogramm pro Liter, in seltenen Fällen werden mehrere Mikrogramm gemessen.
Auch im Trinkwasser gebe es vereinzelt Spuren. In einer Studie des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) heißt es: im Grundwasser und sogar im Trinkwasser nachgewiesen wurden etwa Schmerzmittel (Propyphenazon, Naproxen, Diclofenac), Lipidsenker (Fenofibrat), das Antibiotikum Sulfamethoxazol, das Benzodiazepin Diazepam und das Antidiabetikum Metformin im Rohwasser von Wasserwerken.
Das Ausmaß aller Risiken ist noch unklar, entsprechende Vorschriften gibt es kaum. Viele Unternehmen argumentieren, dass die Arzneistoffe in Gewässern viel zu verdünnt seien, um eine Wirkung beim Menschen hervorzurufen. Doch Professor Kümmerer drängt zum Handeln: „Wir wissen nicht, was bei einer lebenslangen subchronischen Aufnahme passiert. Alle Schätzungen beruhen auf der isolierten Betrachtung einzelner Wirkstoffe. In der Umwelt kommen aber alle gleichzeitig vor.“
Arzneimittel wirken – auch da, wo sie es nicht sollen
Belegt sind in unseren Breiten, wie mehrere Arzneiwirkstoffe Lebewesen in der Umwelt schädigen. Einige davon wirken als Hormone und stören die Fortpflanzung vieler Arten. Ebenfalls gelten Antibiotika als umweltrelevant. Sie werden häufig in Oberflächen- und Grundwasser gefunden und auch in Fischproben nachgewiesen. Oft verwendete Antibiotika töten nicht nur Bakterien, sondern hemmen das Wachstum von Algen und Pflanzen. Der Befund einer Laborstudie zeigt: Rückstände des synthetischen Antibiotikums Ciprofloxacin kann das Wachstum von Grünalgen, Wasserlinsen und Cyanobakterien hemmen.
„Weltweit sind Arzneien in Gewässern vorhanden“. So öffnet Professor Kümmerer den Blick auf den globalisierten Markt der Wirkstoffe. Dabei ginge es nicht darum, dass die Gewässer gleich umkippten. Vielmehr seien Arzneimittelrückstände das Damoklesschwert, das über der globalen Menschheitsfamilie schwebt: Welche Auswirkungen sind zukünftig von dieser medikamentösen Blackbox in der Natur zu erwarten? Welche Verantwortung haben wir gegenüber der Erde und den zukünftigen Generationen? Was geschieht, wenn unser Verbrauch an Humanmedizin aufgrund des demografischen Wandels weiter steigt?
Allein durch den sachgemäßen Gebrauch gelangten bei uns – laut Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA), rund 80 bis 95 Prozent der Medikamente ins Abwasser. Auch die unsachgemäße Entsorgung zum Beispiel über den Abfluss oder die Toilettenspülung belastet die Gewässer. Nur ein Anteil im einstelligen Prozentbereich gelangte laut VfA in Deutschland durch die Herstellung von Arzneien ins Abwasser. Dabei werden die meisten Arzneimittel in Indien, China und anderen Schwellenländern hergestellt.
Vierte Reinigungsstufe – eine Diskussion ohne Inhalt?
Maßnahmen, die den Eintrag in die Umwelt verhindern, werden hitzig diskutiert. Beispielsweise ist umstritten, ob bei der Abwasseraufbereitung in Kläranlagen eine vierte Reinigungsstufe eingeführt werden soll. Durch Ozon und Aktivkohle würden einige der Spurenstoffe aus dem Wasser gefiltert. Doch hier scheiden sich die Geister: Einige argumentieren, die Aufrüstung sei zu teuer, andere kritisieren, sie sei nicht ausreichend wirksam.
Als wir über eine vierte Reinigungsstufe in Kläranlagen sprechen, steigt bei Professor Klaus Kümmerer wieder die Gewitterstimmung. „Die erweiterte Abwasserreinigung mit Ozon und Aktivkohle löst das Problem nicht“, so der Professor. Manche Stoffe würden zwar besser entfernt, aber 50 bis 67 Prozent der Arzneien gingen trotzdem unverändert durch die Anlage hindurch. Bei manchen Behandlungsverfahren entstehen durch unvollständigen Abbau sogar noch toxischere Stoffe.
Außerdem verweist der Professor für nachhaltige Chemie auf den globalen Aspekt. Aus dem UN-Weltwasserbericht 2017 geht hervor, dass rund 80 Prozent des weltweiten Abwassers ohne Reinigung direkt in die Umwelt fließen. Dass der Großteil der Arzneien und Arzneimittelstoffe in Ländern außerhalb der Europäischen Union hergestellt wird, dürfte ein flaues Magengefühl bescheren.
Marijke Ehlers, Pharmazeutin beim Verband forschender Arzneimittelhersteller wendet ein, dass nicht alle außereuropäischen Produktionsstätten über einen „Kamm geschert“ werden könnten. Auch da gäbe es „Topproduktionsstandorte“. Zudem gebe es eine internationale Initiative für verantwortungsbewusstes Lieferkettenmanagement mit 49 pharmazeutischen Mitgliedern weltweit.
Die Initiative bemüht sich seit 2006, durch Vorbildfunktion, Gemeinschaft und Partnerschaft verantwortungsvolles Lieferkettenmanagement und bessere Geschäftsbedingungen in der Branche zu fördern. Hierbei würden auch die Produktionsabwässer in den Fokus genommen, so Ehlers. Medien fördern aber immer wieder Szenen großer Produktionsstandorte in Indien oder China zutage, die ein anderes Bild zeichnen.
Benign by design – ein Konzept zur nachhaltigen Pharmazie
„Wollen wir unsere Verantwortung wahrnehmen, oder nicht?“ Für Professor Kümmerer sind die Diskussionen um die vierte Reinigungsstufe „End-of-pipe“-Lösungen, die nichts an der Ursache der Probleme ändert – und effektive Lösungen in die Zukunft verschieben. Er zitiert einen Satz, der Albert Einstein zugeschrieben wird: „Ein schlauer Mensch löst ein Problem, ein Weiser vermeidet es.“
Für Kümmerer ist die beste Lösung, direkt an der Quelle anzusetzen, damit die Schadstoffe gar nicht erst in die Umwelt gelangen. Eine seiner Ideen ist, Arzneistoffe chemisch so anzupassen, dass sie in der Umwelt möglichst schnell und vollständig abbaubar sind. Das Konzept nennt sich „benign by design“. Auf diesen Forschungsweg hat er sich schon vor vielen Jahren gemacht – begleitet von Skeptikern und Zweifeln, Zufall, Glück, Hartnäckigkeit und Mut.
Den Anfang machte ein Molekül, das ihm bei einem Vortrag im Krebsforschungszentrum Heidelberg präsentiert wurde. Es ging um ein Derivat des Zytostatikums Ifosfamid. Die Forscher hatten die Verbindung aus medizinischen Gründen mit einem Zuckermolekül versehen. Kümmerer stellte fest, dass diese Substitution wie keine bis dahin andere bekannte den biologischen Abbau in der Umwelt verbesserte.
Neue Gesetze müssten her
„Die Untersuchung damals zeigte mir, dass biologische Abbaubarkeit nicht im Wiederspruch zur Stabilität eines Arzneimittels im menschlichen Körper steht“, so Kümmerer. Er zählt weitere Stoffe auf, die sich im alkalischen Abwasser zersetzen und anschließen biologisch abgebaut werden: Betalaktame (z. B. Penicillin), das Antiepileptikum Valproinsäure oder das Chemotherapeutikum Gemcitabin.
Auch heute sehen viele in der Pharmaindustrie die biologische Abbaubarkeit in der Umwelt als einen Widerspruch zur Stabilität im Körper. „Zwischenzeitlich haben wir gelernt, dass das Marketingdenken ist“, wirft Kümmerer Skeptikern vor. Die Industrie sieht es als schwer genug an, neue Medikamente zu entwickeln. Eine Umweltrisikobewertung sei zwar bei der Zulassung von Arzneimitteln seit über 15 Jahren fester Bestandteil, dies sei aber leider Augenwischerei.
Über die Umwelt nehmen Menschen lebenslang kleine Dosen von Arzneimitteln auf. Die Folgen kennen die Wissenschaftler nicht. Bisherige Untersuchungen beobachten einzelne Wirkstoffe, doch in der Umwelt kommen viele gleichzeitig vor.
Laut dem Umweltbundesamt würden die festgestellten Umweltrisiken nicht abschließend in die Nutzen-Risiko-Abwägungen bei der Zulassung von Medikamenten einfließen. Solange die Gesetzeslage sich nicht ändert, besteht für die Pharmaindustrie nicht die Notwendigkeit, die biologische Abbaubarkeit zu berücksichtigen, wenn sie neue Arzneimittel entwickeln.
Kümmerer bleibt beharrlich: Das Design für biologisch abbaubare Medikamente ist im Labor nur ein weiteres Kriterium bei der Auswahl aus vielversprechenden Kandidaten der Leitstruktur, wenn es gezielt schon von Anfang an in Betracht gezogen wird.
Umweltbewusstsein oder Imagepolitur?
Auch wenn die Pharmaindustrie ihre Stoffe nicht so gern verändern möchte, habe sie laut Kümmerer relativ früh Prinzipien der grünen Chemie eingeführt. Relativ früh gingen sie bereits sparsam mit Abfall, Energie und Lösungsmitteln um, nun sind sie in dieser Hinsicht der chemischen Industrie voraus. Das liegt möglicherweise auch an den geringeren Produktionsmengen der Arzneimittelhersteller und daran, dass sie mit den Maßnahmen Geld sparen.
Das Engagement in Sachen Nachhaltigkeit seiner Mitglieder beschreibt auch der VfA in einem Beitrag. Mit der eigenen Produktionsweise, aber auch durch ihre Innovationen soll die Branche zu einer umweltschonenden und sozial ausgewogenen Entwicklung weltweit beitragen, heißt es hier. Die Ziele der Initiative „Chemie3“ sollen einen Beitrag zu den globalen Nachhaltigkeitszielen (SDG) der Vereinten Nationen leisten.
In einem jährlichen Responsible-Care-Bericht fasst der Verband der chemischen Industrie (VCI) die freiwilligen Initiativen der Industrien zusammen. Es lässt sich nur schwer sagen, was davon Umweltbewusstsein ist, was Imagepolitur, oder was nur zukünftigen Gesetzen vorgreift, an die sich Hersteller bald halten müssen.
Tatsache ist, dass der öffentliche und politische Druck steigt. So hat beispielsweise Anfang des Jahres Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier zum Zukunftsdialog für eine klimaneutrale Chemie- und Pharmaindustrie eingeladen, um die Ziele des Klimaschutzplanes 2050 der Bundesregierung für eine Klimaneutralität auch in diesem Bereich umzusetzen. Die Industrie muss sich bewegen.
Spurenstoff-Initiativen – es geht voran
Auch in Sachen Mikroschadstoffe im Abwasser, gibt es inzwischen Initiativen. Mikroschadstoffe sind nicht bioabbaubar und schon in geringen Mengen toxisch für verschiedene Lebewesen. So hat die Bundesregierung vor einigen Jahren einen Stakeholder-Dialog zur Spurenstoffstrategie ins Leben gerufen, an dem sich unter anderem auch die Pharmaindustrie beteiligte.
EU-weit wurde 2019 die European Union Strategic Approach to Pharmaceuticals in the Environment auf den Weg gebracht, und in diesem Frühjahr das EU-Forschungsprojekt „Prioritisation and Risk Evaluation of Medicines in the Environment“. Ziel ist, Arzneimittelrückstände in der Umwelt besser zu verstehen und nach Tools zu suchen, mit denen bereits bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe auf deren Umweltfreundlichkeit geachtet werden kann.
„Aha – warum nicht gleich so“, mag Klaus Kümmerer, dessen Institut ebenfalls daran beteiligt ist, gedacht haben. Auch er merkt nach Jahren harter Arbeit, dass das Thema mit mehr Ernst betrachtet wird. Er werde nun zunehmend von Firmen eingeladen. Vertraulich werden ihm hin und wieder auch mal Moleküle gezeigt.
„Ich habe mich dem Thema ja nicht angenommen, um der Pharmaindustrie an den Karren zu fahren“, beteuert Kümmerer. Es habe ihn wissenschaftlich interessiert und ist ihm persönlich wichtig. In der Zwischenzeit hat er selbst unter anderem mit seinem Team zwei umweltverträglichere Varianten des Antibiotikums Ciprofloxacin entwickelt und sucht dafür jetzt einen Hersteller. Vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer dafür, dass das große Gewitter ausbleibt.