Europaparlaments-Abgeordnete und Apothekerin Jutta Paulus im Interview
Die Apothekerin Jutta Paulus wurde 2019 als Kandidatin von Bündnis90/Die Grünen in das Europäische Parlament gewählt. Dort arbeitet die gebürtige Gießenerin an konkreteren Klimazielen in der Europäischen Union. Mit der UniDAZ sprach sie über ihr Studium und ihre Arbeit im Europaparlament.
UniDAZ: Warum haben Sie Pharmazie studiert?
Paulus: Nach dem Abitur war ich entschlossen, Chemie zu studieren. Damals hätte ich, um einen Job zu bekommen, promovieren müssen. Eine spätere Teilzeitstelle wäre auch nicht infrage gekommen. Das waren wichtige Nachteile, da ich es mir offenhalten wollte, ob ich Kinder bekommen möchte. Bei der Frage, was es Ähnliches gäbe, kam ich auf die Pharmazie. Ich bin sehr froh, dort gelandet zu sein, weil wir in vielen Bereichen ein Grundwissen aufbauen.
UniDAZ: Was hat Sie im Studium am meisten interessiert?
Paulus: Ich hatte immer Spaß in der pharmazeutischen Biologie, auch wenn ich nicht besonders gut war. Die Teedrogenklausur war die einzige Prüfung, bei der ich durchgefallen bin. In der Mischung, die ich analysieren musste, waren vier verschiedene Lippenblütler, das fand ich damals total ungerecht!
UniDAZ: War das Studium anstrengend für Sie?
Paulus: Meine Kommilitonen haben meist mehr gelernt als ich, ich habe mich irgendwie durchgewurschtelt. Damals engagierte ich mich nebenher bei der Hochschulpolitik und saß für die Grünen im Marburger Stadtparlament.
UniDAZ: War die Pharmazie in den 1980er-Jahren ein nachhaltiges Studium?
Paulus: Überhaupt nicht. Wir mussten im Fachbereichsrat dafür kämpfen, dass unser Institut Schwermetallreste nicht über das Abwasser entsorgt. Ich machte die Stadt Marburg auf das Problem aufmerksam, die anschließend einen bösen Brief an die Hochschule schickte. Ein Professor schlug daraufhin vor, man könne doch alle Wasserhähne laufen lassen, um die Schwermetalle zu verdünnen. So nachhaltig dachte man damals.
UniDAZ: Was stand für Sie nach dem Studium an?
Paulus: Nach dem dritten Staatsexamen gründete ich mit meinem Mann ein Labor für Umweltanalysen. Er war im Labor, ich übernahm nebenher eine Halbtagsstelle in der öffentlichen Apotheke, um ein gesichertes Einkommen beizusteuern. Bis 1999 habe ich die Stelle in der Apotheke behalten. 2012 haben wir die Anteile an unserem Labor verkauft. Dann stieg ich beim Qualitätsmanagement in unserem örtlichen Krankenhaus ein. Nebenher machte ich wieder mehr Politik.
„Apotheken im ländlichen Raum verhungern am ausgestreckten Arm“
UniDAZ: Vermissen Sie die Arbeit in der öffentlichen Apotheke?
Paulus: Ich habe noch viel Kontakt zu den Mädels, mit denen ich studiert habe und bin heilfroh, dass ich da raus bin. Wir haben eine große Verantwortung gegenüber den Patienten und sind dafür bestens ausgebildet. Wir sind aber überqualifiziert dafür, passende Arzneimittel-Rabattverträge herauszusuchen. Auf dieser Ebene leisten Apotheker:innen nur Erfüllungshilfe. Die Patient:innen haben nichts davon.
UniDAZ: Was müsste sich ändern?
Paulus: Wir müssen uns Gedanken machen, welche Rolle ökonomische Faktoren spielen dürfen gegenüber dem, was das Beste für die Patient:innen ist. Ich würde mir wünschen, dass die pharmazeutischen Kompetenzen erweitert werden. Außerdem müssen wir uns überlegen – und das betrifft den gesamten Einzelhandel – wie wir den ländlichen Raum gestalten. Momentan fällt auf, dass viele Großstadtapotheken sehr gut leben können, während die Apotheken im ländlichen Raum am ausgestreckten Arm verhungern.
UniDAZ: Wenn Sie zurück auf Ihr Studium und Ihre Arbeit als Apothekerin blicken: Was hat Sie am ehesten für die Arbeit im Europaparlament vorbereitet?
Paulus: Nichts davon. Die Arbeit ist ganz anders; höchstens ähnelt meine Parteitätigkeit bei den Grünen der Arbeit in Brüssel. Das hat nichts damit zu tun, was ich als Apothekerin oder im Qualitätsmanagement getan habe.
UniDAZ: Haben Sie das Gefühl, für die EU „Undercover“ zu arbeiten?
Paulus: Ich bin verblüfft, wenn Leute sagen: „Alles wird in den Hinterzimmern verhandelt“, dabei überträgt das Europaparlament jede Ausschusssitzung und jedes Plenum live. Sämtliche Berichte sind im Internet abrufbar. Hier herrscht ein Defizit in der Berichterstattung. „Warum wird so wenig über europäische Politik berichtet?“, fragte ich eine Journalistin, die für die Politik in Brüssel zuständig ist. „Das interessiert einfach keinen“, antwortete sie. Logisch, wenn niemand darüber berichtet, kann es auch niemanden interessieren.
Die Europäische Union könnte geile Politik machen
UniDAZ: Liegt das daran, dass die europäische Politik im Verdacht steht, langsam zu sein?
Paulus: Ich bin mir nicht sicher, ob das Europaparlament langsam ist. Im Herbst 2019 begann ich, an einer Verordnung zu CO2-Emissionen des Seeschiff-Verkehrs zu arbeiten. Im November war mein Bericht fertig. Im April 2020 hatten wir mit den anderen Fraktionen eine Position erarbeitet, im darauffolgenden September stimmte das Parlament mit großer Mehrheit dafür. Wir brauchten ein Jahr, um einen stark verbesserungsfähigen Entwurf als Parlament zu konkretisieren. Die Wege zur Entscheidungsfindung sind nicht länger als im Bundestag. Doch der Rat der Mitgliedstaaten, der letztlich jedem Gesetzesentwurf mit Mehrheit zustimmen muss, bremst den Prozess aus.
UniDAZ: Kann die EU-Politik unser Wirtschaftssystem nachhaltiger machen?
Paulus: Um es mit Martin Sonneborn zu sagen: „Die EU könnte geile Politik machen, die Leute müssten nur besser wählen.“ In Europa haben wir wenige progressive Regierungen, viele sind sehr konservativ. Als Europaparlament können wir viel erreichen, weil wir uns als unabhängige Gesetzgeber verstehen. Hier sitzen über 700 Menschen aus allen Mitgliedstaaten der EU. Fraktionen bilden neue Allianzen, die im Heimatland regieren oder nicht. Klar ist, dass wir bei der Frage nach der Nachhaltigkeit dicke Bretter bohren. Doch nicht umsonst fragte Maja Göpel, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen: „Was wäre denn die Alternative, in den Grenzen unseres Planeten zu wirtschaften? Sollen wir uns einfach darauf einstellen, dass alles zusammenbricht?“ Genau das dringt an vielen Stellen durch. Dinge verändern sich – wenn auch zu langsam.
UniDAZ: Wie viele Studierende arbeiten Sie gerade von zu Hause aus. Belastet Sie das?
Paulus: Ich habe „luxuriöse Verhältnisse“, will heißen: Ich habe keine Kleinkinder zu betreuen und ein eigenes Arbeitszimmer. Aktuell organisiert das EU-Parlament alle Ausschusssitzungen online, was erstaunlich gut funktioniert – obwohl das Parlament Übersetzungskanäle für alle Amtssprachen der EU anbieten muss. Doch die Schwelle für einen schnellen Austausch ist höher. Früher konnte ich mit Kolleg:innen anderer Fraktionen informell einen Kaffee trinken und dabei bestimmte Themen ansprechen. Heute muss ein offizieller Termin für eine Zoom-Konferenz her.
„Ich halte Lobbyismus nicht für grundsätzlich falsch“
UniDAZ: Gibt es also auch weniger Lobbyismus?
Paulus: Auf jeden Fall. Lobbyisten melden sich nach wie vor, ich habe unzählige solcher Mails in meinem Posteingang. Doch sie sitzen nicht, wie sonst, im Publikum bei allen Ausschusssitzungen oder sprechen einen auf dem Gang an. Generell gehören Lobbyisten dazu und der Austausch auf dieser Ebene ist wichtig. Als ich an meinem Bericht zur CO2-Emission des Seeschiff-Verkehrs arbeitete, fuhr ich nach Rotterdam und sprach mit der Hafenverwaltung, Reedereien, Wissenschaftlern und Fachgesellschaften. Wir müssen die Auswirkungen kennen, wenn wir diese oder jene politische Regelung umsetzen. Aus meiner Tätigkeit im Labor kenne ich das von der anderen Seite.
UniDAZ: Sie waren selbst mal Lobbyistin?
Paulus: Damals hatte die OECD eine neue Richtlinie für einen Teilbereich der Good Laboratory Practice (GLP), nach der wir im Labor gearbeitet haben, vorgelegt, und es war klar: Gut gemeint, aber so sind die Vorgaben in der Praxis nicht umsetzbar. Wir verfassten mit unserem Verband eine Stellungnahme, indem wir um eine Überarbeitung des Richtlinienentwurfs baten. Ich halte Lobbyismus nicht für grundsätzlich falsch, doch er muss transparent sein. Mit wem ich mich zu welchem Thema getroffen habe, habe ich veröffentlicht, weil für die Bürger nachvollziehbar sein muss, wer mit wem redet. Das ist auf EU-Ebene übrigens, anders als im Bundestag, Pflicht.
UniDAZ: Werden Sie in der Europapolitik bleiben?
Paulus: Auf jeden Fall. Wer in der Umwelt- und Energiepolitik etwas erreichen will, muss Europa-Politik machen. Ohne die europäischen Umwelt- und Naturschutzrichtlinien wären wir nicht so weit, wie wir heute sind. Weil Deutschland diese Richtlinien nicht einhält, laufen gerade etliche Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik. Denn Mitgliedstaaten, die sich nicht an die Vorgaben halten, müssen Strafen zahlen, sonst würde nichts passieren. Es ist spannender, an diesen Vorgaben mitzuarbeiten, als sich auf nationaler Ebene zum Beispiel mit einzelnen Autobahnabschnitten rumschlagen zu müssen.
UniDAZ: Liebe Frau Paulus, vielen Dank für das Gespräch.