Die Anfänge der Arzneitherapie liegen in der Volksmedizin, deren Erfahrungsschatz auf mehrere tausend Jahre meist zufälliger Beobachtungen von therapeutischen Wirkungen am Menschen zurückgeht und lange Zeit die wichtigste Quelle für neue Arzneistoffe darstellte. Das änderte sich erst mit dem Entstehen der organischen Chemie Mitte des 19. Jahrhunderts. An die Stelle der traditionellen volksmedizinischen Heilmittel traten zunehmend experimentell erprobte Wirkstoffe, die auf konkreten biochemischen und physiologischen Erkenntnissen basierten. Doch trotz dieses naturwissenschaftlichen Fundaments blieb die Arzneimittelforschung weiterhin geprägt von glücklichen Zufällen, denen wir eine Vielzahl der heute zur Verfügung stehenden Arzneistoffe verdanken. Ein Beispiel dafür ist der Blutgerinnungshemmer Warfarin, der zunächst als Rattengift Karriere machte.
Verschimmelter Süßklee macht Rinder krank
Anfang der 1920-er Jahre grassierte in den Prärien Nordamerikas und Kanadas eine bis dahin unbekannte Rinderkrankheit. Viele Viehzüchter mussten tatenlos zusehen, wie ihre Tiere an unkontrollierbaren Blutungen starben. Zwar fand der kanadische Tierarzt Frank Schofield schon bald heraus, dass die Krankheit mit Silofutter aus verschimmeltem Süßklee in Verbindung stand, genaueres wusste man zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Erst im Februar 1933 kam wieder Bewegung in die Sache. Am frühen Samstagmorgen macht sich der Rinderzüchter Ed Carlson, dessen Herde ebenfalls von der heimtückischen Süßklee-Krankheit betroffen ist, auf den Weg in die 300 Kilometer entfernte Großstadt Madison. Von den Wissenschaftlern der dortigen „University of Wisconsin“ erhofft er sich einen Ratschlag, wie er das Leben seiner blutenden Rinder retten kann. Seine drei Beweismittel sind ein verendetes Kalb, eine Milchkanne voller Blut und jede Menge Klee. Diese schleppt er – glücklicherweise wie sich später herausstellen sollte – nicht in die renommierte landwirtschaftliche Abteilung, die am Wochenende verwaist ist, sondern in das Labor nebenan, in dem der Biochemiker Karl Paul Link auch am Samstag forscht. Link rät dem Mann, künftig nur noch trockenes Heu zu verfüttern, mehr kann er für den enttäuschten Farmer und dessen sterbende Rinderherde nicht tun.
Gerinnungshemmung als Ursache erkannt
Die Verzweiflung des Rinderzüchters hatte jedoch der Links Ehrgeiz als Forscher geweckt. Der Befund, dass das Rinderblut in Carlsons Milchkanne keinerlei Anzeichen von Gerinnung zeigte, brachte den Wissenschaftler auf den richtigen Weg. In nimmermüder Kleinarbeit versuchte Link aus Unmengen von Süßklee die rätselhafte Substanz zu isolieren, die dafür verantwortlich war. Als er sie 1941 endlich in den Händen hält, nennt er sie Dicumarol.
Karriere als Rattengift

Zunächst wurde der Gerinnungshemmer Warfarin als Rattengift zugelassen - erst einige Jahre später als Arzneimittel. (Heiko Kiera - Fotolia)
Nachdem man die Gerinnungshemmung als Ursache der Blutungen erkannt hatte und es gelungen war Dicumarol chemisch zu synthetisieren, stand einer medizinischen Nutzung der Substanz als Blutverdünner eigentlich nichts mehr im Wege. Doch die Untersuchungen von Karl Paul Link und seiner Arbeitsgruppe gingen zunächst in eine ganz andere Richtung. Angesichts der Tatsache, dass die tödlichen Blutungen infolge einer Dicumarol-Vergiftung erst mit einiger Verzögerung eintreten, war die Substanz nämlich als Nagetierbekämpfungsmittel von hohem Interesse, insbesondere für den Sponsor von Links Forschungstätigkeit, die Wisconsin Alumni Research Foundation – kurz WARF. Ratten lernen nämlich sehr rasch, vergiftete Köder zu meiden, sobald tote Artgenossen in der Nähe liegen. Vergiftungen mit Verzögerungseffekt eröffneten daher neue Wege der Schädlingsbekämpfung. In der Praxis erwies sich Dicumarol als Rattengift jedoch als wenig geeignet. Link und sein Team machten sich daher auf die Suche nach wirksameren Substanzen. Der Durchbruch gelang schließlich 1948, als sie das farb- und geruchlose Warfarin (so benannt in Anlehnung an den Namen des Forschungssponsors WARF) synthetisierten, das in den USA wenig später als Rattengift zugelassen wurde.
Präsident verhilft zu schnellem Ruhm
An eine pharmazeutische Anwendung von Warfarin dachte zu dieser Zeit niemand, da man die Hemmung der Blutgerinnung für unumkehrbar hielt. Das änderte sich erst 1951, nachdem ein Marinesoldat einen Selbstmordversuch mit Warfarin unternommen hatte. Der Soldat überlebte nicht nur, seine Gesundheit konnte sogar komplett wiederhergestellt werden. Die daraufhin initiierten klinischen Studien zeigten überraschend positive Ergebnisse und führten bereits 1954 zu seiner Marktzulassung von Warfarin als Blutverdünner. Zu den ersten Patienten, die mit Warfarin behandelt wurden gehörte der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower, der 1955 einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er verhalf dem neuen Arzneimittel zu schnellem Ruhm und großer Popularität. Denn was für einen Präsidenten gut war, konnte für die übrige Bevölkerung nicht schlecht sein – selbst wenn es sich dabei um Rattengift handelte.
zie